Führung wirkt erst, wenn das Feuer überspringt
Artur Klein, 54, arbeitet in der Organisationsentwicklung einer großen Stadtverwaltung, gilt als Vordenker und Macher. Er ist einer, der Dinge bewegt: Prozessmanagement, Digitalisierung, agile Arbeitsweisen, Ämterentwicklung. All das begeistert ihn. Als der Leiter dieser wichtigen Abteilung in den Ruhestand ging, übernahm Artur die Nachfolge. Endlich kann er seine Ideen umsetzen, Strukturen verschlanken, Prozesse digitalisieren und sein Team für den Aufbruch gewinnen. Er hat viele Ideen, hält leidenschaftliche Reden, initiiert Projekte, befragt die Amtsleiter, organisiert Workshops. Seine Energie scheint grenzenlos und er brennt lichterloh. Zunächst.
Wenn das Feuer der Führungskraft das Team nicht erreicht
Doch während Artur sich voller Tatendrang in Ämter-Workshops, Optimierungs-Meetings und Konzeptarbeit stürzt, nehmen die Menschen um ihn herum dieselbe Situation aus einer völlig anderen Perspektive wahr. Viele sind neu im Team, die Sachgebiete wurden neu geordnet, und über allem hängen große Fragen und Unsicherheit, wie ein Damoklesschwert. Gerüchte über einen möglichen Personalabbau verstärken die Stimmung zusätzlich.
Für einen Großteil der langjährigen Mitarbeitenden bedeutet dieser Rahmen und die zusätzlichen Veränderungen nicht Aufbruch, sondern Unsicherheit und Chaos. Neue Strukturen, neue Methoden, unbekannte Erwartungen. All das kann bedrohlich wirken. Ein Teil der Mitarbeitenden fragt sich insgeheim: Werde ich den neuen zusätzlichen Anforderungen überhaupt gerecht? Bin ich hier richtig? Verliere ich meinen Platz, wenn ich nicht herausrage und besondere Leistungen erbringe? Die Reaktionen sind vielfältig: Manche ziehen sich innerlich zurück, andere klammern sich an Altbewährtes. Einige reagieren mit offener Skepsis, andere mit Arbeitswut. Und all das wirkt – schleichend, aber massiv – auf Motivation, Zusammenhalt und Wirksamkeit des gesamten Teams. Das Team zerfällt in eine Ansammlung von Individueen, wo jeder versucht, auf eigene Faust zu überleben. Artur merkt das zunächst nicht.
Was am Anfang Begeisterung war, wandelt sich zu Zurückhaltung und Aktionismus. Rückmeldungen werden knapper, der Umgangston wird härter, Engagement für das Gemeinsame versiegt. Neue Projekte finden keine Mitstreiter mehr oder nur die Falschen. Artur brennt weiter, aber allein. Was er als mangelnde Motivation im Team deutet, ist in Wahrheit ein Warnsignal. Denn was passiert, wenn nur die Führungskraft brennt?
Unterschiedliche Brenngrade
Das, was Artur erlebt, ist kein Einzelfall. Viele fachlich starken Führungskräfte geraten genau in diese Situation: Sie sind leistungsstark, voller Begeisterung, voller Ideen, voller Tatkraft und stehen doch irgendwann allein auf weiter Flur. Würde man die Energieverteilung in einem einfachen Diagramm darstellen, sähe man 95 % der Energie bei der Führungskraft und nur 5 % beim Team. Ein Ungleichgewicht, das im Außen kaum auffällt, aber enorme Wirkung hat. Denn während die Führungskraft sich abstrampelt ist der Rest des Teams längst innerlich ausgestiegen. Nicht, weil sie nicht wollen. Sondern weil sie die Dynamik nicht mehr verstehen, weil sie sich nicht mehr beteiligt fühlen – oder schlicht, weil sie die Richtung nicht kennen und das Tempo nicht halten können. Das Feuer des Einstiegs ist erloschen!
Das Tragische: Die meisten Führungskräfte merken das gar nicht. Sie sind so tief mit der Nase in der Furche, so sehr im eigenen Antrieb gefangen, dass sie gar nicht wahrnehmen, was um sie herum passiert, quasi in ihrem „toten Winkel“. Dass die anderen weniger bis überhaupt nicht mehr brennen, merkt die Führungskraft erst, wenn sie einmal innehält oder wenn jemand von außen darauf blickt und sie darauf aufmerksam macht, hoffentlich, bevor es im Unternehmen kracht.
Der Weg zurück zum gemeinsamen Feuer
Schritt 1: Erkennen, dass man alleine brennt
Der erste und entscheidende Schritt aus diesem Dilemma ist das Erkennen. Erkennen, dass Sie der oder die Einzige sind, der brennt. Das klingt einfach, ist aber schwer, weil viele Führungskräfte das Gefühl haben, ständig „auf Sendung“ sein zu müssen. Als Antreiber, Motivator, Impulsgeber. Deswegen wurden sie ja ausgewählt und befördert! Sie verwechseln Dynamik mit Wirksamkeit, Input mit Output. Allein das ständige Gasgeben des Chefs kann schon ein erstes Anzeichen dafür sein, dass das Team mit seiner Leistungs-, Lern- und Anpassungsfähigkeit bereits aus dem Gleichgewicht geraten ist und nicht mehr das erbringt, was notwendig wäre.
Erkennen heißt also, das eigene Energielevel kritisch zu hinterfragen: Woher kommt meine Energie? Wo ist die Energie meiner Mitarbeitenden? Wie viel der Gesamtenergie stammt von mir? Stimmt das Mischungsverhältnis von mir und den anderen noch?
Dabei wird dann oft festgestellt, dass der Sechszyliinder-Motor des Teams nur auf einem Zylinder läuft und man es als Chef nicht bemerkt, weil man zu beschäftigt ist.
Schritt 2: Energie zurücknehmen
Der zweite Schritt ist der unbequemste: die eigene Energie bewusst zu drosseln. Nicht, weil Engagement falsch wäre, sondern weil Dauerfeuer den anderen keine Luft zum Atmen lässt. Das bedeutet konkret: weniger Initiativen gleichzeitig starten, weniger Themen selbst an sich ziehen, weniger retten, was andere nicht tun, nicht als Springer arbeiten. Es ist ein bewusster Akt des Loslassens und für viele Führungskräfte fast eine Zumutung oder sogar persönliche Qual. Doch genau hier öffnet sich der Raum, in dem andere überhaupt erst wieder Verantwortung übernehmen und als zarte Pflänzchen wieder Eigenenergie zeigen können.
Für diesen Zeitraum, bis andere aktiv werden, sollte von vornherein ein Zeitpuffer in der Projektplanung vorgesehen sein. Risiken für das Unternehmen sollten ebenfalls abgesichert sein. Es darf kein „Interregnum“ geben, in dem das Unternehmen wegen Untätigkeit scheitert.
Schritt 3: Wahrnehmen, was dann passiert
Wenn die Führungskraft aufhört, ständig zu treiben, zeigt sich, wie es um das System wirklich steht. Wo schmiert die Qualität ab? Welche Themen werden aufgegriffen, und welche bleiben liegen? Wer übernimmt Verantwortung, und wer wartet ab? Dieses Beobachten ist kein Rückzug, sondern eine sorgfältige Studie des Arbeitssystems, ein geplanter und gut kontrollierter Test. Er offenbart, ob das Team tatsächlich die Kernaufgaben erledigen kann, wo Dinge runterfallen, was liegen bleibt. Auch zeigt sich, wie selbstständig jeder Einzelne im Team arbeiten und leisten kann oder ob man sich längst an die ständige Energiezufuhr von oben gewöhnt hat – wie jemand, der immer getragen wurde und damit das Laufen verlernt hat. Manche Themen verschwinden plötzlich. Andere bekommen unerwartet neuen Schwung. Die Führungskraft hat dazu vorab Pflöcke eingehauen, welche Themen aus Unternehmenssicht prioritär sind und damit unbedingt bedient werden müssen.
Genau diese Bewegungen zeigen, wo die Handlungsfelder und Entwicklungspotenziale liegen und wo vielleicht strukturelle oder persönliche Blockaden wirken.
Schritt 4: Rollen klären und Verantwortung gezielt übergeben
Falls die Aktivierungsmaßnahmen greifen (Plan A), braucht es im nächsten Schritt Klarheit. Verantwortung muss sichtbar und eindeutig verteilt werden. Hilfreich dazu ist ein Rollensteckbrief. Der zeigt, wozu eine Person da ist, welchen „Geschäftszweck“ sie hat und welche aktuellen Rahmenbedinungen dabei beachtet werden müssen. Der Rollensteckbrief geht damit weit über die Job-Description hinaus. Er definiert welche zusätzlichen Anforderungen im Moment auf die Rollen wirken, was besonders betont oder beachtet werden muss und welche Leistungen unbedingt erbracht werden müssen. Damit der neue Rollensteckbrief zum tragenden Fundament eines gemeinsamen Leistungsverständnisses werden kann, müssen die Anforderungen ausgehandelt sein. Das wird von eifrigen Führungskräfte gerne vergessen. Sie übersehen dabei, dass ein WIR in Umbruchsituationen erst erarbeitet bzw. ausgehandelt werden muss.
Alle weitere Maßnahmen wie zum Beispiel die Delegation von Zusatzaufgaben bauen darauf auf. Das bedeutet, wichtige oder neue Aufgaben nicht mehr „zwischen Tür und Angel“ zu verteilen, sondern bewusst zuzuordnen: Wer ist für welches Thema zuständig? Wer trägt die Verantwortung und wer unterstützt?
Artur beginnt, diese Verantwortung klar zu benennen. Er erstellt mit jedem Teammitglied dessen individuellen Rollensteckbrief – manchmal wird um Formulierungen gefeilscht. Damit wird Artur sehr klar und sehr verbindlich mit seinen Ansagen: „Das ist dein Thema. Dafür bist du verantwortlich, das sind die geforderten Qualitäts- und Leistungsstandards. Ich unterstütze Dich gerne, aber Du hast das Steuer in der Hand.“ Damit verschiebt sich die Energie weg vom Chef und hin zum Team. Verantwortung wird nicht mehr nur gegeben, sie wird genommen, oder auch nicht.
Damit kommen wir zum Plan B und einer weiteren möglichen Variante: Niemand übernimmt, das Experiment geht schief. Dann braucht es noch mehr Sog, Druck, Klarheit oder Überzeugungskraft und zwar solange, bis alle im Boot sind und in die gleiche Richtung rudern. Dieser Machtkampf ist manchmal unvermeidlich, sollte aber als Plan B in der Hinterhand mitgedacht werden.
Schritt 5: Begleiten statt übernehmen
Führung bedeutet nicht, sich zurückzuziehen, sondern präsent zu bleiben und auch einen Machtkampf nicht zu scheuen – nur eben auf andere Weise. Jetzt geht es darum, den Raum zu halten und den passenden Führungsstil zu wählen: zuzuhören, Fragen zu stellen und Orientierung zu geben. Und zwar in einer Form, die zum Reifegrad der Mitarbeitenden in ihrer jeweiligen Aufgabe passt. Artur nutzt dafür das Modell der Situativen Führung, das genau für solche Herausforderungen entwickelt wurde. Er erkennt, dass er weniger reden und mehr beobachten, zuhören und fragen muss. Statt allen Mitarbeitenden Aufgaben auf die gleiche Weise zu übertragen, schätzt er nun deren individuellen Reifegrad ein.
Dieser Reifegrad ergibt sich aus der Kombination von Können und Wollen. Der Führungsstil muss sich daher aufgabenspezifisch an diese Mischung anpassen. Artur analysiert also, wo seine Mitarbeitenden stehen und richtet sein Führungsverhalten danach aus. Das verändert die Dynamik im Team spürbar: Jede und jeder fühlt sich abgeholt. Nicht belehrt, sondern beteiligt. Der ausgehandelte Rollensteckbrief und der zum Reifegrad passende Führungsstil sind essentielle Formen der Beteiligung. Führung wird persönlicher, wirksamer und passender für die jeweilige Situation, die Mitarbeitenden fühlen sich gesehen und merken, dass sie persönlich gemeint sind.
Schritt 6: Feedback und Lernen
Am Ende steht das Feedback und die „Manöverkritik“, die gemeinsame Auswertung. Was hat funktioniert? Was hat sich verändert? Welche Verantwortung ist wirklich übernommen worden und wo braucht es noch Unterstützung? Diese Rückkopplung ist der Moment, in dem Entwicklung spürbar wird. Nicht, weil alles perfekt läuft, sondern weil alle Beteiligten anfangen, Verantwortung nicht nur zu tragen, sondern auch zu gestalten. Ein authentisches und ungeschöntes Feedback – ehrlich, sachlich, konstruktiv und aufmunternd – schließt den Kreis. Es stärkt das Vertrauen und gibt Energie für die nächste Herausforderung, die zusätzlich gemeister werden muss.
Das Drama vieler Führungskräfte
Die Geschichte von Artur Klein steht stellvertretend für viele Führungskräfte, die befördert wurden, weil sie engagiert sind und brennen – und die genau daran zu scheitern drohen. Sie glauben, dass Begeisterung der Schlüssel zu Führung ist. Doch wenn Begeisterung nicht geteilt wird, isoliert sie. Dann wird aus Inspiration Druck, aus Energie Erschöpfung und aus fachlicher Exzellenz eine Ein-Mann-Armee, die die Minderleistung nach außen karschiert, nach innen ermüdet und zum persönlichen Burn-out führt.
Der Weg heraus aus dieser Sackgasse beginnt mit einem Schritt, der Mut verlangt: innehalten, wahrnehmen, was wirklich passiert und sich selbst wieder in Beziehung zum Team setzen. Denn Führung heißt nicht, allein zu lodern. Führung heißt, in persönlichen Kontakt gehen und ein Feuer zu entfachen, das gemeinsam trägt – auch dann noch, wenn Sie Ihre Flamme kleiner stellen.